07 September 2006

Chrustschewka

Nach einer Woche in der Suppenstadt, sind wir nun downtown gezogen...

Noch ist kein Schnee gefallen, die Skier ruhen im Sack und die Sonne geht morgens auf - und abends wieder unter. Dafür brummt unser Kühlschrank (Is somebody in the fridge, wunderte sich Susanne, unsere Nachbarin) und die Fahrräder sind Teil des Mobiliars im Wohnzimmer geworden... kombiniere: wir haben nun unser eigenes Reich!
40 qm in einer Chrustschewka : in den sechziger Jahren "errichtet" von sowjetischen Bausoldaten. Jene Männer, die als untauglich erklärt worden waren, ein Gewehr in der Hand halten zu können, sollten fern der Heimat für andere Häuser bauen. Klar, da war die Kreativität - und noch mehr der Durst sehr groß. Mit schiefen Wänden, runden Ecken und weiteren Ergebnissen der großen Maßtoleranzen kämpfen die Bewohner der Chrustschewkas noch heute beim Fliesenlegen oder Regale anschrauben.

Regale und andere Design-Klassiker
So zeigten uns unsere Vermieter ein hölzernes Regal, welches tatsächlich maßgefertigt für eine ganz bestimmte Wohnung (in diesem Fall, die der Großmutter) und dort für eine ganz bestimmte Wand hergerichtet worden war. Ohne dieses Wissen hätten wir beim Anblick des Regals wahrscheinlich gedacht, der Heimwerker habe geschielt UND gesoffen... Nun zurück zu unserer Wohnung. Das Highlight: gefliestes Bad mit Fußbodenheizung! Der Fliesenkleber in der Küche ist noch nicht ganz trocken. Unsere Vermieter, übrigens eine echt nette Kollegin von Minka und deren Mann, haben sich bevor wir eingezogen sind, ein Wochenende lang, in die Wohnung gestellt und sie etwas "aufgefrischt" (Zitat Vermieterin). Wir leben nun mit den Möbeln der anderen Großmutter und verfügen außerdem über einen echten estnischen Siebziger-Jahre-Wohnzimmertisch, will sagen: einen "Design-Klassiker", weil nahezu jeder estnische Haushalt einen solchen besitzt.
Zwei Zimmer, offene Miniküche und Bad sind nun unser Eigen. Uns wurde empfohlen Fahrräder nicht lange auf der Straße herumstehen zu lassen. Das macht in ganz Tartu tatsächlich niemand! Wir zeigen unsere Integrationsbereitschaft und machen es wie alle! Deshalb stehen die Räder, bis wir einen Keller haben, vorläufig im Wohnzimmer und im Hausflur auf dem Treppenabsatz, angekettet wie ein Tiger im Käfig.

Big brother ist watching you
Apropo Hausflur! WIR kennen hier eigentlich nur unsere Nachbarin Susanne aus dem Erdgeschoss, welche uns die Wohnung vermittelt hatte und Minkas Vorgängerin und jetzt Kollegin ist. (Also auch eine Deutschtüte.) Doch uns kennt man bereits, man weiß genau, wo wir wohnen und was mit unserer Wäsche so alles passiert, wenn sie, wie kürzlich, hinter dem Haus an den aufgestellten Wäscheleinen flattern sollte. Denn: wir hatten bei dem gestrigen Wind schon unsere Mühe die 10 Kg Klamotten überhaupt aufzuhängen. Kaum hing etwas, jagten wir schon wieder hinter einer Socke, einem Handtuch oder der Wäscheklammer-Plastiktüte her... Und so ging das wohl noch weiter nachdem wir das Feld der Geschehnisse bereits verlassen hatten. Es klingelte irgendwann und eine Nachbarin wies Sascha darauf hin, dass Teile der Wäsche auf dem Rasen lägen. Woher wußte sie, dass es UNSERE Wäsche war und woher wußte sie überhaupt, wo wir WOHNEN?! WIR hatten sie noch nie gesehen! Ja, wir vergaßen zu erwähnen, dass wir nun Mieter in einer postsozialistischen Genossenschaft sind. An der hinteren Eingangstür prangt nachdrücklich ein Schild, man könnte es schon eine Warnschild nennen, welches auf die nachbarschaftliche Bürgerwehr hinweist. Scheinbar traut sich darum nicht einmal mehr der Postbote in unser Haus, denn bislang ist noch keine Post bei uns angekommen. Obwohl Saschas Schwester Sophie versichert, vor zwei Wochen einen Brief eingesteckt zu haben!

Unsere Wohnung im sozialen und städtebaulichen Kontext
Die Straße ist gesäumt von Bäumen und weiteren Chrustschewkas. Hier wohnen viele Studenten (Wohnheime gibt´s auch um die Ecke), ein "nackter Onkel" (Erläuterung folgt) und ein paar besoffene Ruskis...Es ist keine 2 Minuten zur Unibibliothek, das Stadtzentrum, die Uni sowie das Kaubamaja (heißt: Kaufhaus) sind in 10 Minuten zu Fuß zu erreichen. Für uns Berliner Pflanzen völlig unvorstellbar und immer wieder ein Genuss! Und noch dazu werden die Schuhsohlen geschont...

Wohnst du noch oder lebst du schon?
Nachdem wir uns nun in der vergangene Woche geeinigt hatten, welche Schreibtischlampe wir kaufen, wo wer zum Arbeiten sitzen und seinen Kram ansiedeln darf, sind wir nun gewappnet für den langen kalten Winter!
(Text vom 09.09.06)

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